April 1945 aus der Sicht eines Pfarrers

Dienstag 21. April 2020 , Wurmlingen

Pfarrer Josef Hecht hat in der Pfarrchronik, in beeindruckender Art und Weise, die Geschehnisse vor 75 Jahren in Wurmlingen für die Nachwelt dokumentiert. Kurz vor Ende des 2. Weltkrieges, waren Angst und Not die täglichen Begleiter der Menschen.

In der jüngsten Vergangenheit ist langsam eine „Erinnerungskultur“ gewachsen, die ein Berichten nun unbefangen zulässt; auch sind die direkt Verantwortlichen nicht mehr unter den Lebenden. Lange Zeit galt die Devise: vergessen statt erinnern, denn die Wunden waren noch nicht verheilt. Die Täter, oder das verwandtschaftliche Umfeld im Ort wollten nicht erinnert werden und auch die Opfer hatten noch viele Rechnungen offen und wären durch solche Berichte möglicherweise wieder angestachelt worden. Doch 75 Jahre danach wäre es ein Jammer, würden solche geschichtlichen Schätze gänzlich im Verborgenen bleiben.

Die Tage vor dem Einmarsch der Franzosen: Bis Donnerstag, 19. April 1945 war deutsches Militär im Ort. Im Gasthaus Sonne befand sich eine Feldpostdienststelle. Vor dem Kirchengarten beim Brunnen stand ein schweres Sturmgeschütz. Im Schulhaus waren Soldaten untergebracht. Am 20. April wurde Rottweil von den Franzosen genommen und am Abend erwartete man ihre Ankunft noch in Wurmlingen. Der Volksturm bekam den Befehl, den Ort bis zum Letzten zu verteidigen. Panzerfäuste wurden an die vorwiegend älteren Männer und einige Knaben verteilt und an den Panzersperren wurde Stellung bezogen. Auch ein Zug Soldaten unter Führung eines fanatischen Feldwebels war dabei. Oben auf dem Kapf vom Försterhaus bis Tuttlingen waren Maschinengewehrstellungen und Artillerie aufgebaut. Mit großer Sorge sah man dem kommenden Tag entgegen denn allen war klar, wenn die Verteidigung in Aktion trat, war ganz Wurmlingen verloren. In der kommenden Nacht schlief wohl niemand. Ich selbst war schon zwei Nächte nicht mehr ins Bett gekommen, denn ich war fast immer auf dem Rathaus.

Franzosen besetzen Wurmlingen: Samstag, 21. April.  Die letzten deutschen Soldaten verlassen in der Frühe den Ort Richtung Tuttlingen. Der Volksturm muss nun alleine die Verteidigung übernehmen. Der Kreisleiter befiehlt die Panzersperren zu schließen. Gegen Mittag, als alle führenden Parteileute den Ort verlassen hatten, löste Benk den Volkssturm Wurmlingen auf, der die Panzersperren geöffnet verlässt. Mit großer Erleichterung sieht nun die Gemeinde dem Kommenden entgegen. Ein Blutvergießen durch die Geheimorganisation ist nun Gott sei Dank vermieden.

Gegen ½ 11 Uhr erscheinen vor dem Ort auf der Trossinger Straße Richtung Tuttlingen sechs französische Panzerspähwagen, die beim Fußballplatz halten, da sie von Kapfhöhen beschossen werden. Auf dem Rathaus und auf dem Kirchturm wird die weiße Flagge gehisst, ebenso an verschiedenen Häusern im Unterdorf, da ein Panzer auf die Haltestelle geschossen hat. Da die Panzer vom Kapf immer mehr Feuer bekommen und nicht weiter vorrücken können, ja sogar einige sich wieder zurückziehen, werden viele, die die weiße Flagge gehisst haben, ängstlich und fürchten, bei einem zu erwartenden Gegenstoß des deutschen Militärs, ins besondere der SS-Einheit vor ein Standgericht gestellt und erschossen zu werden. Eine große Niedergeschlagenheit erfasste die Menschen und als die Franzosen immer noch nicht einrückten, wurden fast alle weißen Flaggen wieder eingeholt, so dass nur mehr die auf dem Kirchturm und am Rathaus zu sehen waren. Aus Angst vor der SS sehnte man die Franzosen herbei. Stunde um Stunde bangster Erwartung verging, bis endlich gegen 16 Uhr von Weilheim her etwa 150 Panzer ins Ort einrückten. Die angestaute Angst verwandelte sich in große Freude. Die Leute gingen auf die Straße und schwenkten die Taschentücher. Die Panzer hatten im Ort Halt gemacht, da sie wegen der Gegenwehr vor Tuttlingen nicht weiterkamen. Plötzlich fielen Bomben mitten in den Ort. Ein entsetzliches Krachen und Schreien und schon stand das Haus von Josef Zepf, Ecke Rosenstraße Untere Hauptstraße lichterloh in Flammen. Überall Löcher in den Straßen und Schäden an den Häusern. Offenbar glaubten die französischen Flieger, es wären deutsche Panzer, die in Wurmlingen standen. Es waren acht Todesopfer zu beklagen und dreizehn Personen wurden schwer verletzt. Unter den Toten auch das Kind Reinfried Zepf und drei französische Soldaten, die zunächst an der Straße beerdigt und später nach Frankreich überführt wurden. Jammern und Weinen um die Toten und Verwundeten im ganzen Ort. Ich sprang von Haus zu Haus spendete Trost und die letzte Ölung, wobei mir der franz. Militärgeistliche half.

Die ersten Tage der Besatzung: In der Woche vom 22.-28. April kamen endlose Kolonnen franz. Militär durch den Ort. Man verglich die erdrückende Übermacht unseres Gegners mit der armeseligen Größe und Ausstattung unseres Militärs, das wenige Tage zuvor den Ort verlassen hatte. Selbst der Laie sah die Sinnlosigkeit jeglichen deutschen Widerstandes ein. Zwischendurch und danach zogen ebenso endlose Kolonnen von deutschen Gefangenen durch Wurmlingen; ein trostloser Anblick der jeden ergriff. Dabei auch alte Männer und Knaben, apathisch, schmutzig, verlumpt und viele ohne Schuhwerk und Lumpen an den blutigen Füßen, todmüde und hinkend, begleitet von oft schwarzen französischen Soldaten mit Maschinenpistolen auf Rädern fahrend und vor und hinter den erbärmlichen Zügen jeweils ein Militärauto mit einem Maschinengewehr…

In den ersten Tagen des Einmarsches plünderten die Franzosen, schossen alles Geflügel auf den Straßen nieder, gingen in die Häuser und holten unter vorgehaltener Schusswaffe, was sie wollten. Bei Nacht drangen Soldaten in die Wohnungen und vergewaltigten mehrere Frauen.

Es kamen auch Kolonialtruppen in den Ort, Marokkaner und Indochinesen. Vor den Schwarzen hatten die Leute infolge der Nazi-Propaganda eine entsetzliche Angst. Man schloss vor ihnen Fenster und Türen. Erst langsam merkte man, dass dies auch Menschen waren.

Die Bevölkerung hatte sich langsam an die Besatzung gewöhnt. Leider nur zu sehr. Viele Frauen warfen sich wegen einer Konservenbüchse den Franzosen in die Arme, auch den Schwarzen. Die Folgen zeigten sich bald. Wo bist du, du vielgepriesene deutsche Frauenehre. Diese ehrvergessenen Weiber, deren Männer oft noch in Gefangenschaft sind, tragen den Kopf hoch, wohl wissend, dass die Franzosen hinter ihnen stehen… 

Der Krieg ist vorbei, der Schrecken geht weiter: Am Mittwoch 9. Mai ereignete sich im Unterdorf ein schreckliches Unglück. Ein franz. Lastauto mit deutschen Gefangenen, lauter Offiziere, war von Tuttlingen kommend im schnellen Tempe die Wilhelmshöhe heruntergefahren. An der Kurve bei der Linde hatte es sich überschlagen und die Gefangenen unter sich begraben. Es war ein entsetzliches Bild. Auf der ganzen Straße zerstreut lagen die Sterbenden verstümmelt in ihren Blutlachen. Die Toten waren mit Decken zugedeckt. Ich beendete gerade den Bittgottesdienst vor Christi Himmelfahrt, eilte zur Unfallstelle und spendete den 10 Sterbenden die letzte Ölung. Der Fahrer meinte nur: „ Es handelt sich ja nur um deutsche Schweine!“

Notiz von Pfarrer Josef Hecht am Jahresende 1945 in der Pfarrchronik: Doch bei all diesen schrecklichen Dingen wollen wir lieber an das Gute denken, das das Jahr 1945 gebracht hat, das Ende des schrecklichen Krieges, die Befreiung vom Nazi-Joch und damit auch die religiös-kirchliche Freiheit. So will ich schließen mit einem Deo gratias!“

Text hpp / Bild Pfarrarchiv

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