Gerhard Liehner - Warum ich bleibe

Donnerstag 31. März 2022 , Meine Gedanken

Die Kirche ist mir wichtig

Heinrich Böll war der Autor meiner Jugend. In seinen Romanen schildert er schicksalhafte Situationen und Begegnungen der Nachkriegszeit und setzt sich in

diesem Zusammenhang permanent mit der Rolle der katholischen Kirche auseinander. Seine Figuren provozieren, werfen der Kirche bzw. der Kurie und den Amtsträgern Versäumnisse und Fehlverhalten vor. Streng katholisch erzogen distanzierte er sich zusehends von der „Körperschaft“ der Kirche, machte seinen Austritt öffentlich, blieb aber Katholik und nahm an Gottesdiensten und Kommunion teil.

Dieses Verhalten mag widersprüchlich, unlogisch und verwirrend sein. Mich aber haben Werk und Verhalten des Literaturnobelpreisträgers des Jahres 1972 immer wieder mal eingeholt und beschäftigt. Insbesondere eines seiner Bekenntnisse fasziniert mich bis zum heutigen Tag: Heinrich Böll kennt die Geschichte der Kirche, die voller Gräuel, Mord und Unterdrückung ist. Er verweist auf Kreuzzüge und Hexenprozesse, auf die Ablehnung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Aber es gab auch Franziskus, Vincent, Katharina, …! D.h., es gab in der christlichen Welt schon immer einen Raum für Schwache, Kranke, Menschen mit Behinderungen, …! Heinrich Böll empfiehlt in einem Interview, „sich eine Welt vorzustellen, auf der es Christus nicht gegeben hätte“. Er selber kommt zu dem Schluss, dass die Menschheitsgeschichte ohne Evangelium und der Institution Kirche viel menschenverachtender und brutaler verlaufen wäre. Selbst eine „allerschlechteste christliche Welt“ würde er einer Welt ohne Christentum und Kirche vorziehen.

Die aktuell unterschiedlichsten Probleme in unserer Kirche lassen auch bei mir und bei vielen Zweifel aufkommen, führen zu Empörung und Resignation, schreien geradezu nach Veränderung. Und wahrscheinlich muss ich erleben und in Kauf nehmen, dass die von unten kommenden Vorschläge, Ideen und Forderungen an höchster Stelle gar abgeblockt werden. Das ist frustrierend! Doch was uns allen in dieser Zeit der Krise und angestrebten Erneuerung bewusst werden sollte: Kirche ist trotz Institution und hierarchischer Strukturen zuallererst die Gemeinde vor Ort – also getaufte Christen, die versuchen, sich am Evangelium zu orientieren und ihr Leben nach diesen Wertvorstellungen zu leben!

Und so habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass in den Basisgemeinden Nächstenliebe und Gerechtigkeit, Toleranz und Achtsamkeit, Gottesglaube und Seelsorge nicht nur gepredigt, sondern spürbar werden. Ich respektiere die Meinung, dass diese Werte auch ohne Kirche denkbar sind. Ich weiß auch, dass sich viele Menschen für andere einsetzen, ohne dass sie „glauben“. Die sinnstiftende Erfahrung von „communio“, dem Miteinander von Christen, ist aber ohne Kirche für mich nicht vorstellbar. Um sich austauschen zu können, miteinander über Wertvorstellungen und Seins-Fragen zu streiten, gemeinsame Vorhaben zu realisieren, sich mit und für andere zu engagieren, zusammen zu feiern, nicht nur im Gottesdienst – dazu braucht es für mich Kirche.

Ich habe mir den Glauben nicht ausgesucht. Ich wurde durch Eltern und Großeltern sowie durch die Jugendarbeit geprägt. Und im Verlauf meines Lebens bin ich einigen Kirchenleuten begegnet, die mich motiviert und überzeugt haben. Aber ich habe auch Frustrationen und Wüstenzeiten erlebt, die mich mehr als zweifeln ließen. Unterm Strich aber bleibt: Es gibt für mich keine Weltanschauung und keine Religion, die sich mehr um das Heil der Menschen kümmert und Hoffnung verspricht als das Christentum. Es braucht keine Pandemien und Kriege, um sich auf diese Kernbotschaft und die Seelsorge zu besinnen. Aber vielleicht erlebe ich in dieser unsicheren Zeit, dass sich Kirche wieder mehr um die Menschen kümmert – nicht auf einer abstrakten Ebene mit Erklärungen und Versprechen, sondern tagtäglich im Umgang miteinander. Und das ist doch eine Chance für uns alle!

Gerhard Liehner – Kirchengemeinderat Mariä Himmelfahrt, Seitingen-Oberflacht

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